Jahresrückblick 2014: Feindbildentwicklung in der Netzkultur
Falls demnächst jemand unüberlegt sagen möchte, die Medien würden einseitig berichten, hier meine Warnung: Vorsicht, damit ist man praktisch schon ein Nazi! Oder falls jemand der Meinung ist, man solle zur Vermeidung internationaler Konflikte auf Verständigung statt Konfrontation zu setzen – auch falsch! Mit einer solchen Einstellung macht man gemeinsame Sache mit Reichsbürgern und Verschwörungstheoretikern und ist somit eigentlich auch schon ein Rechter. Und falls jemand denkt, jetzt übertreibt er aber, der Frank – nein, gar nicht. Die Entwicklung der politisch korrekten Argumentation ging in den letzten Monaten in exakt solche Richtungen.
Das vergangene Jahr hat verblüffende neue Entwicklungen hervorgebracht, was die Verschiebung von Feindbildern und Grenzlinien bei Internetdiskussionen betrifft. Der Auslöser waren die „Mahnwachen für Frieden“. Dort wurde bekanntlich ziemlich naives und auch dummes Zeug verbreitet, man konnte Chemtrail-Spinner erleben, Reichsbürger, Esoteriker und andere Spaßvögel. Manchmal war es das reine Panoptikum. Kein Wunder, dass sich intelligente Menschen automatisch davon abgrenzten. Mit solchem Unsinn wollte man nichts zu tun haben, also stellte man sich argumentativ auf die Gegenseite. Ich habe das auch getan. Das Problem war nur, dass einige Mahnwachen-Kritiker sich zu pauschal abgrenzten und nicht nur die eindeutigen Blödheiten, sondern auch alles andere gleich mit ablehnte, was die „Wahnwichtel“ forderten. Nun ist aber, nur weil bei einer Veranstaltung einige falsche Dinge gesagt werden, der Rest nicht automatisch gleich mit falsch: Für Frieden zu sein, ist beispielsweise grundsätzlich trotzdem richtig, auch wenn bei einer Friedensdemo jemand vor Chemtrails oder vor Monsanto warnt oder Wasserenergetisierung anpreist. Nur weil ein „Friedensbewegter“ eine Propagandameldung aus Russland zu ernst nimmt, sind nicht automatisch alle russischen Meldungen gleich mit gelogen und sämtliche Propagandameldungen aus Kiew oder von der NATO ernst zu nehmen. Dass die Medien nicht immer ausgewogen berichten, ist vielleicht trotzdem eine korrekte Aussage eines Redners, auch wenn eine Unperson wie Jürgen Elsässer oder Ken Jebsen nach ihm die Bühne betritt.
Unter ehemaligen Mahnwache-Kritikern gilt deshalb inzwischen erstaunlicherweise die Regel: Unsere Medien lügen nicht! Da ist alles ganz ausgewogen und sachlich. Das denke ich mir nicht aus, so wird jetzt argumentiert. Absolut verblüffend ist auch, dass in diesen Kreisen neuerdings sogar eine direkte Linie von den Mahnwachen bis hin zu PEGIDA gezogen wird, obwohl beide Aktionen kaum etwas miteinander zu tun haben. Außer, dass die Leute von der Antifa gegen beide sind, aber nun ja … die sind sowieso gegen alles, wo sie Nazis vermuten (also überall).
Bei PEGIDA skandierten halbwegs normal wirkende Bürger plötzlich „Lügenpresse“, weil die Medien aus ihrer Sicht alles verdrehen. Was diese Bürger anscheinend nicht wussten (sie hätten freilich auch darauf achten können, wer die ersten Rufer waren): „Lügenpresse“ hat einen nationalsozialistischen Hintergrund. Die Weiterentwicklung daraus ist nun, dass man in Internetdiskussionen schon einmal „Aha, man kritisiert also die ‚Lügenpresse‘“ als Gegenargument erhält, wenn man Einseitigkeiten der Medien bei bestimmten Themen bemängelt. Galt es zu Beginn des Jahres noch als vernünftig, medienkritisch zu sein, ergibt das heute fast schon Nazi-Vorwürfe.
Dieses Schwarz/Weißdenken ohne Duldung von Zwischennuancen zeigt sich auch in der Positionierung zu Russland. Nur weil jemand sagt, man solle vielleicht miteinander reden und versuchen, auch die russische Seite zu verstehen, muss er noch lange kein Putin-Freund sein. Wenn jemand sagt, gute Politik sollte immer zunächst auf Verständigung setzen statt auf Konfrontation, dann bedeutet das noch lange nicht, dass er Putin verteidigt oder seine Politik gut findet. Nein, die kann er trotzdem schlecht finden und kritisieren. Aber solche moderierenden Haltungen sind heute im Netz nicht mehr geduldet. Erhielt man damit zu Beginn des Jahres noch die halbwegs nette Bezeichnung „Putin-Versteher“, so war man bald ein von Moskau bezahlter „Putin-Troll“. Inzwischen haben die politisch Korrekten „Kremlin“ als Bezeichnung erfunden und in einem Artikel der „WELT“ wurden „Putinversteher“ zusammen mit PEGIDA-Besuchern schließlich als „die Irren hierzulande“ in einen Topf geworfen. Klingt alles sehr durchdacht …
Natürlich darf und muss man Putin kritisieren. Genau wie alle anderen Staatsoberhäupter auch, sofern es Gründe dafür gibt. Aber selbst Hetze gegen das russische Volk zu betreiben, ist bereits salonfähig. Auf einen Einwand, die Russen hätten ihren angeblichen Diktator Putin doch aber freiwillig gewählt und man möge sie über ihre Regierung doch vielleicht selbst entscheiden lassen, schrieb kürzlich jemand (und ähnliche Bemerkungen sind nicht selten): „Die Russen sind einfach noch nicht fähig für die heutige Welt. Geistig hängen die meisten noch im letzten Jahrhundert fest.“ Man stelle sich den Aufschrei vor, wenn dieselben Sätze über die Bewohner eines beliebigen anderen Landes gefallen wären, zum Beispiel über ein afrikanisches Land. Auch über Muslime sollte man so nicht schreiben – da wären knallharte Rassismus- und Nazivorwürfe die Folge. Aber über die Russen, diese unterentwickelten Menschen, darf man so etwas problemlos sagen. Das sagt mehr wohl über uns als über sie aus.
Das Vorantreiben des Konfrontationskurses haben so argumentierende Menschen längst selbst übernommen. Was in der ersten Jahreshälfte noch von unseren Leitmedien getan wurde, haben wir nun selbst übernommen. Wobei … die Medien waren ja immer ausgewogen, sachlich und neutral. Die massiven Zuschauer- und Leserproteste in dieser Zeit kamen anscheinend völlig ohne Grund.
Das Ende des vergangenen Jahres hat mich insofern etwas ratlos gemacht. Ich hoffe, dass im Jahr 2015 dieses Schwarz/Weiß-Denken wieder abnimmt und die Menschen ihre Feindbilder durchdachter sortieren.
Vielleicht ist es auch die zunehmende Digitalisierung, der Informationsüberfluss, das schnelle Entscheiden über Löschen oder Nichtlöschen, Weiterscrollen oder Lesen, Daumen hoch oder Daumen runter, was viele Menschen zum schnellen Einordnen in einfache Schubladen bzw. Schwarz/Weiß-Denken bewegt. Kaum jemand nimmt sich die Zeit zum Recherchieren, zur Quellenprüfung, zum Nachdenken, zum Nachlesen, zum Diskutieren.
Was mich nachhaltig irritiert ist, daß auch viele intelligente Mitmenschen zunehmend zu dieser fehlenden Differenzierung tendieren. Ich will ja nicht pessimistisch ins neue Jahr starten, ich befürchte jedoch, dieser Trend der beschleunigten und vereinfachten Meinungsbildung wird eher zunehmen.
1. Danke für den Artikel.
2. Was Hendrik sagt.
Bewahren wir uns die Fähigkeit, kritisch an die Dinge heranzugehen. Es ist ein Privileg, den Verstand und die Zeit dafür zu haben.
Frank, der Artikel ist nicht unter Satire getagged, doch der letzte Satz „Ich hoffe, dass im Jahr 2015 dieses Schwarz/Weiß-Denken wieder abnimmt und die Menschen ihre Feindbilder durchdachter sortieren.“ macht ihn zur Satire … Feindbilder werden nicht „durchdacht“ sortiert, sonst wären es doch keine mehr 😉
Ansonsten alles in allem d’accord … FB-Daumen 😉
Etwas abstrakter ausgedrückt sind Feindbilder Heuristiken – und gemäß unserer Evolution waren sie lange Zeit unverzichtbar. Die Urmenschen hatten ja keine Zeit, um zu differenzieren, ob der Säbelzahntiger freundliche oder unfreundliche Absichten haben würde.
Heute haben wir in der Regel die Zeit, die Möglichkeit und als Demokraten auch die Pflicht, unsere Heuristiken zu »sortieren«. Ich denke, dass wir dabei auf der einen Seite einen inneren Kompass haben, der uns die Richtung vorgibt. Auf der anderen Seite gibt es Sensoren, die auf Reize reagieren. Und dann kommt es auf die Verarbeitung an 😉
@Micha: Mein Feindbild DJ Ötzi habe ich mir auf jeden Fall sehr genau durchdacht. Aber Du hast schon irgendwie Recht: Wenn man ein Feindbild überdenken würde, ist es wahrscheinlich bald keins Mehr.
@stefanolix: Der Heuristik-Ansatz hat was.
@Hendrik: Mich hat diese Tendenz tatsächlich etwas pessimistisch gemacht. Ich habe mich in letzter Zeit immer öfter aus Diskussionen herausgehalten, wenn entsprechende Themen kamen. Ich habe mir dann meist gesagt: Du bist hier nur der Beobachter. Aber eine Lösung ist das ja auch nicht.
Ich habe mich auch aus vielen Diskussionen herausgehalten. Ich habe aber meine Heimatstadt auch gern verteidigt. Es kann ja nicht zur Norm werden, dass Vorurteile gegen jede andere Gruppe von Menschen verboten sind – aber über die Dresdner oder über die Sachsen der hanebüchenste Blödsinn verbreitet werden darf.
Wie ich damals schon gebloggt habe: Die meisten Demonstranten wollen aus meiner Sicht einfach nur in einem funktionierenden Rechtsstaat leben. Sie haben Angst vor bestimmten Begleiterscheinungen der offenen Grenzen, aber auch vor Diebesbanden, Messerstechern und einer diffusen Bedrohung durch IS/Salafisten & Co.
Pauschalisieren ist auch nicht gut
Grundsätzlich stimme ich Ihnen zu.
Nur darüber bin ich gestolpert :
„uns“ ist der Dativ von „wir“.
Um mit Polt zu sprechen : Wer ist „wir“ – ich nicht.
Man sollte schon Roß und Reiter nennen. Ich bin für klare Ansagen.
Solch´ Pauschalisierung wird mindestens einem Ihrer Fünf Punkte nicht gerecht.
Interpretationsvorschlag: Es sagt etwas über »unser« Diskussionsklima aus? Und es ist bezogen auf die Medien dieses Landes, in denen nun mal die Diskussionen der Elite ablaufen?
@Michael-DD: Da hat doch einer meiner Leser wieder einmal ein auslegbares Wort entdeckt … 😉 Ich meine damit exakt das, was Stefanolix schon mit unserem allgemeinen Diskussionsklima beschrieb. Selbstverständlich sind damit nicht wir alle gemeint, sondern nur die, die so diskutieren.
@stefanolix:
Ich habe jetzt gerade noch einmal bei Dir im Blog nachgesehen, ob ich es dort schon erwähnt hatte. Teilweise ja, den Rest erwähnte jemand anderes: Ich weiß nicht, was Pegida-Besucher wirklich wollen. Die blocken ja nur ab bei Anfragen. Eine Bekannte von mir hat es mal selbst versucht, Äußerungen zu erhalten – kein Erfolg. Die bisher einzige brauchbare Quelle für Positionen von Pegida-Besuchern sind die ungeschnittenen Aufnahmen des Panorama-Beitrags „‚Lügenpresse‘ trifft Pegida“. Das bestätigt Deine Meinung so halbwegs, dass viele Demonstranten einfach nur in einem funktionierenden Rechtsstaat leben wollen, allerdings sehe ich noch einen anderen Effekt. Ehe ich das hier nochmal beschreibe, kopiere ich einfach einen Text von mir, den ich auf Facebook an Tilo Kiesling (DIE LINKE, Dresden) geschrieben hatte:
Die Antwort war übrigens sinngemäß: Mit Rechten geben wir uns nicht ab. Na, dann halt nicht.
Ob „wir“ resp. hier „uns“ interpretierbar sind wenn sie so in einer knüppelharten Aussage stehen – darüber ließe sich streiten.
Frank benennt ja explizit die
Aber Auslegung hin oder her. Ich möchte schon wissen wer von den Eliten
in den
hat das
von sich gegeben?
Ich habe das Haare-Spalten mit Michael ja schon ein wenig vermisst, insofern startet das neue Jahr wie gewohnt 😉 Ob „in den Medien des Landes“ jemand so etwas gesagt hat, weiß ich nicht, das habe ich auch nirgends behauptet. Mir fielen solche Äußerungen in den letzten Monaten nur verstärkt in Internetdiskussionen auf. Das Beispiel hier habe ich mir kürzlich auf Google+ kopiert, als ich dieses Thema bereits als Artikel im Kopf hatte. Ist das jetzt wirklich so wichtig, dass ich den Link heraussuche? Ich habe soeben danach gesucht und musste leider feststellen, dass der Betreffende seinen entsprechenden Kommentar nachträglich verändert hat. Ein Link bringt also hier nichts mehr.
Nein Frank, der Link ist nicht so wichtig.
Nach nochmaliger Nachfrage stellt sich nun heraus, dass Sie die Aussage eines beliebigen Internetforisten genommen haben. Aber ich bin der Haarspalter. Gleich zwei Erkenntnisgewinne – Punkt 3 Ihrer Kriterien.
Zweck Ihres Abschnittes über Putin + Rußland war ja wohl eine Kritik der Diskussionen darüber. So gerne mir das Leid tut :
Das kann man machen, aber nicht anhand der dümmlichen und herabwürdigenden Meinung eines einzelnen. Ich würde mich hüten damit auch noch eine verallgemeinernde Aussage über „uns“ zu treffen.
Aber Sie hatten es ja später schon selbst gesagt :
@Michael: Na gut, dann ist der ganze Artikel halt ungültig.
Frank, müssen Sie hier wirklich das Kind mit dem Bade ausschütten ?!